Das Zentralnervensystem des Blutegels wird wegen der Größe der Nervenzellkörper (bis zu 100 μm), deren problemlosen Identifizierung sowie der detaillierten Kenntnisse zu den synaptischen Verknüpfungen bereits seit über 50 Jahren als neurobiologisches Modellsystem genutzt. Parallel zu Untersuchungen an den Gliazellen wurden auch die Neuronen des Blutegels zum Objekt zahlreicher neurobiologischer Fragestellungen. In den vergangenen Jahren standen Themen wie die synaptische Übertragung, pharmakologische und neurochemische Problemstellungen sowie Entwicklung und Regeneration des Zentralnervensystems im Mittelpunkt der Forschung.
Die Segmentalganglien des medizinischen Blutegels enthalten jeweils ca. 400 unipolare Nervenzellen (siehe Klassifizierung von Nervenzellen), wobei ein Typ üblicherweise als Paar vorkommt (200 Nervenzellpaare). Die beiden paarig vorliegenden Nervenzellen unterscheiden sich nicht in ihrer Morphologie, ihren elektrophysiologischen Eigenschaften und ihrer Funktion. Die Nervenzellkörper der ungleichen Typen unterscheiden sich in ihrer Gestalt, Größe und Position sowie in ihren Aufgaben. Als Kriterien zur Identifizierung dienen Größe und Lage der Nervenzellkörper, selektive Färbungstechniken sowie die elektrophysiologischen Eigenschaften (Ruhepotenzial, Form und Frequenz von Aktionspotenzialen sowie Reaktionen auf Agonisten).
Die Aufschlüsse über die Transportmechanismen bei Neuronen und Gliazellen auf zellulärer Ebene sowie die Einblicke in den Informationsaustausch zwischen Zellen (beispielsweise durch synaptische Kontakte zwischen Neuronen), erlauben Rückschlüsse auf komplexere Prozesse, wie die Verarbeitung von Informationen, welche schließlich die Grundlage für Verhaltensweisen eines Tieres bilden.
Eine Möglichkeit der Klassifizierung von Neuronen besteht darin, sie anhand der Gesamtzahl ihrer Neurite (Axone und Dendriten, die vom Soma entspringen) einzuordnen. Es handelt sich demnach um eine morphologische Differenzierung.
Unipolare Nervenzellen besitzen nur einen primären Fortsatz. Dieser kann sich verzweigen, wobei er ein primäres Axon mit Kollateralen bildet und dementsprechend andere Verzweigungen dendritische (d.h. empfangende) Funktion übernehmen können. Unipolare Nervenzellen besitzen aber keine vom Soma ausgehenden Dendriten. Sie dominieren im Nervensystem von wirbellosen Tieren.
Aus bipolare Nervenzellen entspringen zwei Fortsätze – ein Dendrit und ein Axon. Bipolare Zellen kommen in den Sinnesorganen vor. Als spezialisierte Sensorneuronen sind sie für die Vermittlung bestimmter Sinnesreize zuständig. Sie sind Teil der sensoriellen Informationsübertragung für Geruchssinn, Sehsinn, Geschmackssinn, Tastsinn, Gehör und Gleichgewichtssinn. Sie kommen nur sehr selten vor, am häufigsten als zweites Neuron (Bipolarzellen) in der Netzhaut.
Multipolare Nervenzellen besitzen mehr als zwei Fortsätze – ein Axon und mehrere Dendriten. Im Nervensystem von Wirbeltieren sind die meisten Nervenzellen multipolar. Die wichtigsten Vertreter dieses Zelltyps sind z. B. die Motoneurone im ZNS und Rückenmark, die Pyramidenzellen der Großhirnrinde oder die Purkinjezellen des Kleinhirns. Diese Zellen unterscheiden sich stark in Größe und Aussehen.
Alle Messungen in diesem Modul führst du an einer der beiden Retzius-Zellen durch (Abbildung 4). Benannt sind sie nach ihrem Entdecker Gustav Retzius (~1891). Sie stellen die beiden größten Neurone im Blutegel-Zentralnervensystem dar (80-100 µm) und liegen im anterior-medianen Paket. Zum Vergleich, eine durchschnittliche Nervenzelle von Säugetieren ist meist 10-20 µm im Durchmesser.
Durch ihre Größe und die Lage ihrer Zellkörper können Retzius-Zellen eindeutig identifiziert werden. Zur Identifizierung können sie außerdem mit dem Farbstoff Neutralrot angefärbt werden, welcher Zellen mit dem Neurotransmitter Serotonin selektiv markiert.
Die Funktion von Retzius-Zellen ist noch nicht vollständig geklärt. Sie spielen unter anderem bei der Schleimsekretion, dem Fressverhalten, dem Kontraktionszustand der Längsmuskulatur und der Auslösung von Schwimmbewegungen eine wichtige Rolle und werden daher auch als multifunktionale Zellen bezeichnet.